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Safe Uncertainty oder Sichere Ungewissheit

 

Ich habe erneut das Bedürfnis, über die Prinzipien der Feldenkrais-Arbeit zu sprechen und auch die innere Haltung beim Durchführen der Lektionen genauer zu betrachten.

 

In letzter Zeit kommt es immer wieder vor, dass Schüler*innen frustriert oder sogar irritiert sind, weil sie die Lektion und/oder die Anweisungen nicht verstehen. Sie fühlen sich verloren, schlecht geführt oder empfinden die körperlichen Hindernisse als zu groß.

 

Und als Lehrerin möchte ich Werkzeuge an die Hand geben, die hoffentlich hilfreich sind. Hier folgt ein Versuch mit einem für mich neuen Modell.

 

 

Eine Freundin hat mich letzte Woche mit der Arbeit von Barry Mason vertraut gemacht. Er hat ein Modell entwickelt, das zur Reflexion darüber dient, wie wir uns in Bezug auf Risiko positionieren. Es hilft auch dabei, darüber nachzudenken, welche ideale Haltung wir einnehmen sollten, um uns in der Lage zu fühlen, Veränderungen in unserem Leben auszuprobieren.

 

Ich werde dieses Modell hier ganz ungeniert für meine Zwecke interpretieren.

 

Das Modell der Safe Uncertainty von Barry Mason lässt sich hervorragend auf die Feldenkrais-Methode anwenden, da beide Ansätze das Erkunden neuer Möglichkeiten betonen, anstatt starre Gewissheiten zu verfolgen. Feldenkrais basiert darauf, Bewegung mit Neugier, Flexibilität und offener Wahrnehmung zu erforschen – genau das, was auch in Masons Modell als optimale Haltung beschrieben wird.

 

In einer Feldenkrais-Lektion:

1. Safe Certainty (Sichere Gewissheit) – Problematisch in Feldenkrais

Eine Teilnehmerin glaubt genau zu wissen, wie eine Bewegung auszuführen ist oder dass sie sie bereits perfekt beherrscht.

Sie denkt, dass es nur eine richtige Art der Bewegung gibt und folgt Anweisungen mechanisch.

Sie kann sich blockiert fühlen, wenn etwas ungewohnt oder „falsch“ erscheint.

Problem:

Diese Haltung widerspricht dem explorativen Charakter der Feldenkrais-Methode. Eine zu große Gewissheit kann verhindern, dass die Person neue Möglichkeiten entdeckt.

 

2. Unsafe Certainty (Unsichere Gewissheit) – Gefahr von Überforderung

Ein Teilnehmer fühlt sich unsicher in der Bewegung, ist sich aber völlig sicher, dass er es „falsch“ macht oder dass er „steif“ oder „unfähig“ ist.

Er könnte Überzeugungen haben wie: „Mein Körper kann das nicht“ oder „Ich bin zu alt/unbeweglich dafür“.

Vielleicht folgt er zwar den Anweisungen, fühlt sich aber emotional unwohl oder frustriert.

Problem:

Diese Haltung kann dazu führen, dass Teilnehmer sich selbst unnötige Grenzen setzen. Sie glauben zu wissen, dass sie an ihrer aktuellen Bewegungseinschränkung nichts ändern können, anstatt offen für Veränderungen zu bleiben.

 

3. Unsafe Uncertainty (Unsichere Ungewissheit) – Orientierungslosigkeit

Die Teilnehmerin fühlt sich verloren, weiß nicht, was sie tun soll, oder ist überfordert mit den Anweisungen.

Sie könnte denken: „Ich verstehe die Bewegung nicht“ oder „Ich weiß nicht, ob ich es richtig mache“.

Vielleicht führt sie Bewegungen aus, ist aber innerlich angespannt und unsicher, weil ihr das Vertrauen in den Prozess fehlt.

Problem:

Zu viel Unsicherheit kann Angst oder Spannung erzeugen, die sich kontraproduktiv auf die Bewegung auswirkt.

 

4. Safe Uncertainty (Sichere Ungewissheit) – Die optimale Haltung für Feldenkrais

Der Teilnehmer weiß, dass er nicht alles sofort verstehen oder kontrollieren muss.

Er experimentiert spielerisch, ohne Druck, eine „richtige“ Bewegung zu finden.

Er erforscht Bewegungsmöglichkeiten, ohne sich auf eine feste Form festzulegen.

Er bleibt neugierig: „Was passiert, wenn ich es langsamer mache? Was, wenn ich weniger Kraft einsetze?“

Er akzeptiert, dass Ungewissheit Teil des Lernprozesses ist.

Vorteil:

Diese Haltung entspricht exakt dem Geist der Feldenkrais-Methode! Sie ermöglicht tiefere Wahrnehmung, leichtere Bewegungen und eine höhere Anpassungsfähigkeit.

 

Wie kann eine Feldenkrais-Lehrerin Safe Uncertainty fördern?

Einladungen statt Anweisungen geben

Anstatt zu sagen: „Machen Sie diese Bewegung so“, könnte der Lehrer fragen:

„Wie fühlt sich diese Bewegung für Sie an?“ oder „Welche Unterschiede bemerken Sie, wenn Sie es langsamer machen?“

Dies ermutigt die Teilnehmer, selbst zu erkunden, anstatt nach einer „richtigen“ Lösung zu suchen.

 

Mehrere Optionen anbieten

„Probieren Sie es mit offenen Augen und dann mit geschlossenen Augen – was verändert sich?“

„Machen Sie eine kleine Bewegung und dann eine größere – spüren Sie einen Unterschied?“

Dadurch lernen Teilnehmerinnen, dass es viele Möglichkeiten gibt, nicht nur eine „richtige“.

 

Langsamkeit und Achtsamkeit betonen

Je langsamer eine Bewegung ist, desto mehr Raum gibt es für Unsicherheit und Entdeckung.

Langsame Bewegungen erlauben es, alte Muster aufzubrechen und neue Optionen zu erkunden.

 

Keine eindeutigen Antworten vorgeben

Anstatt „Das ist die beste Art zu bewegen“ könnte die Lehrerin sagen:

„Entdecken Sie, was sich für Sie am angenehmsten anfühlt.“

So bleibt der Prozess offen, anstatt starre Gewissheiten zu etablieren.

 

Neugier fördern

„Was passiert, wenn Sie eine Bewegung mit weniger Kraft ausführen?“

„Welche anderen Wege könnten Sie finden, um dies zu tun?“

Neugier hilft, Unsicherheit als wertvoll und befreiend zu erleben.

 

Safe Uncertainty als Kern von Feldenkrais

Die Feldenkrais-Methode zielt darauf ab, automatische Bewegungsmuster aufzubrechen und neue Wege zu entdecken. Das erfordert eine Haltung der offenen Unsicherheit – genau das, was Barry Mason als Safe Uncertainty beschreibt. Wenn Teilnehmer*innen lernen, mit Unsicherheit umzugehen, anstatt nach schnellen Sicherheiten zu suchen, können sie leichter und effizienter lernen. Der Lehrer oder die Lehrerin kann diesen Prozess unterstützen, indem sie oder er Fragen stellt, Optionen anbietet und langsames, bewusstes Erkunden fördert.

 

💡 Feldenkrais-Lernen ist dann am wirkungsvollsten, wenn Teilnehmerinnen sich sicher genug fühlen, um unsicher zu sein!

Und übrigens gilt dies auch für Feldenkrais-Lehrerinnen! :-)

 

 

Food for thought!

 

Olivia

 

Referenz: Internet-Recherche „Barry Mason – Safe Uncertainty”

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Kommentare: 2
  • #1

    Elisabeth Röder (Sonntag, 09 Februar 2025 19:51)

    Sind denn die unter 1 - 3 genannten „Hindernisse“ nicht eben die Erfahrungen bei der Feldenkrais Arbeit? Erfahrungen, die uns mit unseren gewohntem Selbstbild und Glaubenssätzen konfrontieren? Mir hilft oft der kurze Austausch nach der Lektion um mir der Hindernisse im og Sinn bewusst zu werden. Elisabeth

  • #2

    Olivia Maridjan-Koop (Sonntag, 09 Februar 2025 22:25)

    Liebe Elisabeth,
    herzlichen Dank für dein Feedback!
    Und ja, du hast Recht. Es sind die "menschliche" Erfahrungen (nicht nur in der Feldenkrais-Arbeit) und die erste wichtige Arbeit ist, sie zu erkennen.
    Die unter 1-3 genannten Reaktionen oder Haltungen sind sehr real. Ich nutze das Modell um zu illustrieren, wo man sich innerlich befinden könnte. Vielleicht hilft es, wie die Besprechung nach der Stunde, etwas bewusster über die eigene innere Haltung zu werden.
    Mir gefällt den Ausdruck "Safe Uncertainty" sehr. Es ist irgendwie ein Paradox, und nur Paradoxe nähern sich die "Wahrheit".
    ;-)
    Lieben Gruß,
    Olivia