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Die hohe Kunst des Gammelns

Ich bin verspätet mit diesem Brief, und das hat damit zu tun, dass ich gegammelt habe. Seit Wochen gammle ich schon.

 

Ich kannte das Wort nicht wirklich, oder es gehörte nicht zu meinem Vokabular, aber ich verstand es intuitiv, als eine Kollegin meinen Versuch, meine Pfingstferien in Worte zu fassen, zusammenfasste. Ich hatte mir für diese Ferien so viel vorgenommen, und es fing auch wirklich sehr schön und intensiv an mit einem Besuch in Paris. Aber danach war bei mir die Luft raus, und die Stunden meiner Tage vergingen, ohne dass ich viel zustande brachte.

 

Trotzdem habe ich noch einige Einzelstunden gegeben, ein Ganztagesseminar an der Evangelischen Hochschule vorbereitet und begleitet, endlich alle Belege und Unterlagen für die Einkommensteuererklärung 2022 meiner Steuerberaterin zukommen lassen und bin noch dabei, eine Wohnung in Rom für unseren Sommerurlaub zu suchen. Also, warum um Gottes willen habe ich das Gefühl, gegammelt zu haben?

 

"Gammeln" ist für mich irgendwie ein sympathisches Wort, aber es trägt die Wurzel von "vergammelt" in sich, also nicht frisch, ja schon verfault. Natürlich wird mir gesagt, dass es manchmal sein muss, dass ich es wahrscheinlich gebraucht habe, nichts zu tun, und Ähnliches. Und bevor du mir das auch zuflüsterst, will ich dir sagen, dass mir das bewusst ist.

 

Was mich bei mir etwas erschreckt, sind diese extremen Wechsel zwischen sehr aktiv sein und nichts tun. Also habe ich etwas recherchiert.

 

„Unser gesamtes Leben lang arbeiten unser Herz, unsere Lungen und unser Stoffwechsel, ohne dass wir die Prozesse bewusst steuern. Egal, was wir tun, ob wir wach sind oder schlafen, all diese Systeme laufen im Hintergrund und halten uns am Leben. Für die Steuerung dieser und weiterer Systeme ist das vegetative Nervensystem, auch autonome Nervensystem genannt, verantwortlich. Je nach Situation werden die Informationen und Signale an verschiedene Bereiche des vegetativen Nervensystems, wie das enterische, das sympathische oder das parasympathische Nervensystem, weitergeleitet.

 

Die Funktion des enterischen Systems ist die Steuerung und Regulierung der Verdauung. Im Englischen wird es auch als second brain oder abdominal brain bezeichnet, da es einen ähnlichen Aufbau wie das Gehirn besitzt und nach dem gleichen Prinzip arbeitet. Allerdings ist es nicht allein für die Verdauung zuständig. Der Sympathikus und der Parasympathikus haben ebenfalls einen Einfluss auf die Verdauung und können sie entweder aktivieren oder hemmen. So veranlasst das sympathische System, dass die Verdauung langsamer läuft, das parasympathische System kurbelt die Verdauung an.

 

Der Sympathikus steigert die Funktion einiger Organe, während er andere hemmt. Der Körper bzw. der Organismus verbraucht mehr Energie, ist aber leistungsfähiger und kann schneller reagieren („Fight or Flight“). Das sympathische Nervensystem wird aktiviert, sobald der Organismus einer Stresssituation ausgesetzt ist. Solch eine Stresssituation entsteht, sobald der Körper einem sogenannten Stressor ausgesetzt ist. Es gibt physische Stressoren (z. B. Wärme, Kälte oder Lärm) und psychische Stressoren (z. B. Überforderung auf der Arbeit, Verlust eines geliebten Menschen, Termindruck oder Konflikte). Stressoren verlangen eine Anpassung des Organismus an die Situation. Das ist die Aufgabe des Sympathikus.

 

Der Parasympathikus reguliert den Organismus in Erholungs- und Ruhephasen. Eine der Aufgaben des parasympathischen Nervensystems ist der Aufbau von Energiereserven. Nach einer Stresssituation verlangt der Körper Ruhe, der Parasympathikus ist dann für die Regeneration des Organismus verantwortlich.

 

Das sympathische und das parasympathische Nervensystem sind Gegenspieler und regulieren einander. Der Unterschied beider Systeme ist, in welcher Funktion sie die Regulation der Organfunktionen übernehmen. Wenn Du einem Stressor ausgesetzt bist, versetzt sich Dein Körper in Alarmbereitschaft. Folglich reguliert nun der Sympathikus Deine Organfunktionen. Systeme, die nicht dem akuten Überleben dienen, werden gehemmt. Direkt nach der Aktivierung des Sympathikus beginnt der Parasympathikus dagegen zu steuern. Ziel ist es, die freigegebenen Reserven wieder aufzufüllen und den Körper zu regenerieren.

Das vegetative Nervensystem muss im Gleichgewicht stehen. Ist ein Mensch übermäßigem Stress ausgesetzt, wird der Sympathikus überaktiv und der Körper kann nicht ausreichend regenerieren. Bei Ungleichgewicht wie einer übermäßigen Aktivierung des Sympathikus können Symptome wie Kopfschmerzen, Unruhe, Krämpfe, Schlafstörungen und Herzbeschwerden auftreten.

 

Wenn ein Mensch dauerhaft Stressoren ausgesetzt ist und der Parasympathikus nicht, bzw. zu wenig eingreifen kann, um die Kraftreserven wieder zu füllen, kann es zu psychischen Problemen kommen. Andauernder Stress kann das Leben nachhaltig beeinträchtigen. Psychologische Probleme können kurzfristig oder langfristig auftreten. Kurzfristige Folgen können Anspannung, ein Gefühl der Überforderung, Interessenverlust, Nervosität, Überempfindlichkeit, Konzentrationsschwierigkeiten, Energieverlust, ein Gefühl der Unsicherheit, sein. Langfristige Folgen können sich als Hilflosigkeit, Erschöpfung, Depression, sexuelle Funktionsstörungen, psychosomatische Störungen, Schlafstörungen, Angstzustände äußern.“

(Quelle: https://www.studysmarter.de/schule/psychologie/hauptstroemungen-der-psychologie/sympathikus-und-parasympathikus/)

 

Aber zurück zu meinem Gammeln…

 

Neulich las ich – leider weiß ich nicht mehr, wo –, dass der sympathische Zustand die Ausnahme sein sollte und wir viel schneller und länger in einem parasympathischen Zustand zurückkommen, bzw. leben sollten. Leider ist das in unserer modernen Zeit nicht der Fall. Wir leben hauptsächlich in Überreizung und Überforderung.

Beide Aspekte sind lebenswichtig, und das Problem entsteht nur, wenn wir nicht oder schlecht wechseln können. Dementsprechend wird es wichtig, Praktiken zu entwickeln, die uns helfen, in den parasympathischen Zustand zurückzukehren. Unter anderem wird moderate Bewegung empfohlen.

Feldenkrais, anyone? ;-)

 

Dieser Brief ist nicht nur zu spät, sondern auch noch sehr lang, und das Thema ist hiermit nur angedeutet. Aber für heute reicht es. Ich gehe noch ein bisschen gammeln. 😊

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